→ Interessant ist "Der Pädagoge - Gustav Friedrich Dinter"
März 2010
In diesen Tagen begehen wir den 250. Geburtstag des Pädagogen und Theologen Gustav Friedrich Dinter. Wegen seiner Verdienste im Schulwesen wird er der „Sächsische Pestalozzi“ genannt.
Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Schule von der Kirche getrennt wurde, geriet leider Dinter und sein Verdienst für die Volksschule und seine Lehrerbildung in Vergessenheit. Um diesen Umstand zu ändern, möchte ich im Nachfolgenden die Dinter-Biografie von Laura Frost aus dem Jahre 1907 präsentieren.
Sie erschien in der Reihe „Ostpreußische Volksbücher – Ostpreußische Leute.“
Buchtitel
Vorwort
Gustav Friedrich Dinter war einer der volkstümlichsten Männer der Provinz Ostpreußen, trotzdem er nur einen kleinen Teil seines Lebens, seine letzten fünfzehn Jahre hier zugebracht hatte. Er war bereits sechsundfünfzig Jahre alt, als er 1816 aus seinem bisherigen Wirkungskreise in Sachsen nach Königsberg berufen wurde, um sich des Schulwesens in der Provinz Ostpreußens anzunehmen.
Die häufigen Reisen, die er als Schulrat im Interesse seines Amtes durch die Provinz machen mußte, und die er, wenn es irgend möglich war, zu Fuß zurücklegte, führten ihn mit allen Kreisen der Bevölkerung zusammen, und seine große Liebe für das Volk und namentlich für die Jugend dieses Volkes schufen ihm eine allgemein geachtete Stellung: den Kindern gegenüber die eines Vaters; den Erwachsenen gegenüber die eines Freundes und Beraters. Jedermann kannte ihn, und in vielen Familien fand man noch lange nach seinem Tode ein Bild von ihm mit der Unterschrift: „Das ist der alte Dinter.“ Man sah darauf einen Mann in der Mode jener Zeit mit langem Rock und hohen Lederstiefeln dargestellt. Einen großen Hut auf dem Kopfe, einen kräftigen Stock in der Hand, die Akten unter dem Arm schreitet er rüstig vorwärts, wohl zu einer Schulrevision nach dem nächsten Dorfe.
Auch noch andere Bilder soll es von Dinter geben; aber wahrscheinlich wurden sie ohne sein Wissen und ohne seine Erlaubnis angefertigt. Denn er hat vor seine selbstverfaßte Lebensgeschichte, die er im Alter von neunundsechzig Jahren schrieb, die Worte gesetzt: „Ein Künstler, der mich abbilden wollte, müßte sich entweder an der Wahrheit oder an der Aesthetik versündigen; beides soll mit meinem Willen nie geschehen.“
Was Dinter für das Volksschulwesen auf seinen drei Stellen in Sachsen und auf der letzten in Ostpreußen getan hat, und die außerordentlichen Resultate dieser Tätigkeit sichern ihm für alle Zeit einen hervorragenden Platz in der Geschichte des Volkshochschulwesens. In der Entwicklungsgeschichte unseres Vaterlands wird er unvergessen bleiben. Unvergessen soll aber auch in dem Herzen unseres Volkes die Art sein, wie er seine Tätigkeit geübt hat. Nicht Ehrgeiz und Sehnsucht nach Auszeichnungen waren die Triebfedern seines Handelns, sondern es war die warme Liebe für das Volk, die Liebe für die Kinder, für alles Schwache, Verbesserungsbedürftige, die ihn dazu veranlaßte. Mit seinem reichen Wissen und seiner verständnisvollen Weisheit wollte er es ausrichten und ihm helfen.
Selbstlose Liebe für das Volk war der Inhalt seines Lebens. So darf auch das Volk diesen Mann nicht vergessen, sondern soll ihm in seinem Herzen ein unzerstörbares Denkmal dankbarer Liebe errichten.
„Das ist der alte Dinter!“
I. Die Kinderzeit
Gustav Friedrich Dinter war als der dritte Sohn eines wohlhabenden Rechtsgelehrten am 29. Februar 1760 in Borna, einem Städtchen in der Nähe von Leipzig geboren. Sein Vater war einer der lustigsten Männer seiner Zeit, und es war ihm eine Freude, seinen Sohn schon im Kindesalter zum Zeugen, ja zum Teilnehmer seiner oft sehr possierlichen Streiche zu machen. Der besorgten Mutter, welche fürchtete, die kindliche Ehrfurcht könne darunter leiden, antwortete er in des Kleinen Gegenwart: „ Der Junge muß sehen, wie ein ehrlicher Mann lustig sein kann.“ Dieses glückliche Temperament des Vaters hatte sich auf den Sohn vererbt. Von der Mutter hatte er etwas Sanftes und Enthusiastisches, über das er sich noch im Alter freute.
Als Dinter vier Jahre alt war, wurde für ihn eine Aufseherin genommen, die sich ganz mit ihm zu beschäftigen hatte, da die Eltern sehr gesellig lebten und viele Abende nicht zu Hause waren. Dieses Mädchen hieß Johanna Wiese. Sie war damals etwa fünfzehn Jahre alt und wurde im ganzen Hause die Wiesenhanne genannt. Sie ging sehr gut mit dem kleinen Gustav um und erfreute sich seiner zärtlichen Liebe. Ihretwegen bekam der Knabe die ersten und einzigen Schläge von seinem Vater. Er wurde bei Tisch gefragt, wen er am meisten lieb habe und antwortete:
„Zuerst den lieben Gott, danach meine Hanne, nachher Vater und Mutter.“
Dem Vater war das nicht recht; die Wiesenhanne sollte zuletzt genannt werden. Aber das Kind blieb bei seiner Meinung und rief beim wiederholten Befehl:
„Es ist aber nicht wahr.“
Der Vater sah dies als Ungehorsam an und strafte Gustav durch derbe Schläge. Trotzdem war dieser zu keiner anderen Aussage zu bewegen. Da nahm die Hanne ihn plötzlich auf die Arme, lief mit ihm zu ihrem Vater, einem verabschiedetem Unteroffizier, und blieb dort bis zum anderen Tage. Dinters Vater mußte inzwischen in Amtsgeschäften verreisen, und als er zurückgekehrt war, wurde der Sache nicht mehr gedacht. Dieses eine Mal abgerechnet, war er von einer unzerstörbaren Güte und Heiterkeit seinem Sohne gegenüber, und Dinter gedenkt in seiner Biographie mit anerkennender und verehrender Dankbarkeit seiner. Er liebte es, in seinen Kindern Mut und Geistesgegenwart zu entwickeln und stellte ihnen dazu oft unerwartete kleine Aufgaben. An den Geburtstagen der Eltern, wenn der große Freundeskreis versammelt war, mußten die Kinder zum Beispiel Glückwünsche aufsagen. Gustav war noch nicht Schulfähig, als er zu des Vater Geburtstag am 27. Dezember ein Gedicht deklamierte, das mit den Versen begann:
„Auch ich freue mich, daß Sie geboren worden Und uns der heilige Christ Sie heute aufs Neue schenkt Den Tod beschwöre ich, er soll Sie nicht ermorden!“Blitz und Donner erschreckten ihn sehr; er zitterte und weinte dabei. Aber die Wiesenhanne wußte ihn in freundlicher Art von dieser Angst zu befreien. Sie erzählte ihm, wenn`s blitzt, dann putzen die lieben Engelchen im Himmel die Lichter und werfen die Schnuppen auf die Erde. Und wenn`s donnert, dann sind die lieben Engelchen lustig und trommeln vor Freude im Himmel auf Tischen und Bänken. Sie erreichte damit ihr Ziel; das Kind verlor völlig seine Angst und freute sich von nun an über wenige Dinge so sehr, wie über das Donnern und Blitzen.
Ebenso lehrte sie bereits das vierjährige Kind lesen. Sie sagte zum Beispiel:
„Gustel, es regnet heute; wir müssen in der Stube bleiben. Wir wollen Abc spielen.“
Sie sagte vor und er sprach nach; so lernte er spielend die Buchstaben und spielend lesen. Als er sechs Jahre alt war, tobte er einmal sehr wild herum. Die Mutter berief ihn:
„Du bist auch gar zu wild!“ Der Knabe antwortete: „Mutter, das schadet nichts; der Herr Jesus ist ja ebenso wild gewesen.“
„Wer hat dir das gesagt?“ fragte die Mutter sehr verwundert. Gustav hatte seine beiden Brüder einen Choral singen hören mit der Schlußzeile:
„Dein Will, der ist der beste“, hatte das falsch verstanden und sagte nun fröhlich:
„Meiner Brüder haben das heute früh in der Schule gesungen „ Dein Wilder ist der beste.“ Das ist doch niemand als der Herr Jesus.“
Es wirft ein helles Licht auf die seltsamen Verhältnisse jener Zeit, wenn wir hören, daß der zwölfjährige Knabe mit seinem jüngeren Bruder von einem Schornsteinfeger im Tanzen unterrichtet wurde. Derselbe Mann, der mit Besen und Leiter im russigen Anzug in den Ofenröhren und Schornsteinen seiner Berufpflicht nachkam, gab in Gesellschaftskleidung den Knaben und Mädchen der wohlhabenden Familien Tanzstunden. Der Vater war im übrigen sehr ängstlich in betreff jeder körperlichen Uebung. Klettern, baden, schwimmen war seinen Söhnen nicht gestattet. nicht einmal aufs Eis durften sie gehen, so daß ihre körperliche Gelenkigkeit und Geschicklichkeit nicht ausgebildet wurde.
In seiner Kinderzeit war Dinter trotz dieser ängstlichen, etwas verweichlichenden Erziehung stets gesund und hatte von größeren Krankheiten nur die Masern und die Pocken zu überstehen. Beide traten sehr leicht auf. Als Masernkranker besah sich der Dreijährige einmal im Spiegel und freute sich so sehr über sein Bild, daß er sagte: „Ach guter, lieber Gott, laß mir doch die schönen Masern! Ich sehe gar zu hübsch damit aus.“ Unter der verständigen Leitung seiner Hanne und inmitten des frohen und freimütigen Geistes, der sein Elternhaus durchwehte, verlebte Gustav Dinter eine schöne Kinderzeit. Hanne blieb auch später im Hause, übernahm die Küche und war ihrer Herrschaft über zwanzig Jahre ein treuer Hausgenosse. Dinter hat ihr immer ein freundliches Andenken bewahrt, hat sie später unterstützt und zuletzt auch ihr Begräbnis bezahlt.
Nachdem Dinter eine Reihe von Jahren zu Hause von Hauslehrern unterrichtet worden war, kam er auf die Fürstenschule zu Grimma, die früher sein Vater und dann ebenso seine Brüder besucht hatten. Der Abschied vom Elternhause, von Vater und Mutter, fiel dem Dreizehnjährigen schwer; aber die vielen neuen Eindrücke fesselten ihn bald, und die Vielseitigkeit des Unterrichts, wie die Freundlichkeit der Lehrer erleichterten ihm das Sichhineinfinden in die neuen Verhältnisse.
Im Alter von sechzehn Jahren verlor er den Gebrauch des rechten Ohres durch eine Entzündung desselben, und zwei Jahre später erkrankte er schwer an der roten Ruhr. Treulich sorgten in dieser Zeit seine Schulfreunde für ihn. Zwei von ihnen wachten in jeder Nacht an seinem Lager, bis die Gefahr vorüber war.
Dann wurde Dinter zu vollständigen Erholung für einige Wochen nach Hause geschickt. Es war dies die letzte frohe Zeit, die er mit der geliebten Mutter zusammen verbrachte. Sie kränkelte, schien sich dann aber wieder wohl zu fühlen und unbesorgt reiste Dinter am 2. Oktober nach Grimma zurück. Vier Tage darauf erhielt er die Nachricht, daß sie gestorben sei. Sein Schmerz war unbeschreiblich; er verlor in der Mutter die beste Freundin seiner Kindheit und Jugend; viele Jahre, in denen die älteren Brüder schon auswärts gewesen waren, hatte die Mutter sich ausschließlich ihm gewidmet, er hatte sein Gefühl seiner Seele vor ihr verborgen.
Wohl liebte und verehrte er den Vater; aber sein Verhältnis zur Mutter war ein ganz anderes gewesen, ein inniges Verstehen und Beieinandersein ihrer liebenden Herzen. Er konnte sich von diesem plötzlichen Schlag kaum erholen; eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich seiner und nur, wenn er in poetischer Prosa seinen Schmerz dem Papier anvertraute, fand er einige Erleichterung.
„Ich will nicht beschreiben,“ sagt Dinter, „wie mir zu Mute war. Nur wer eine solche Mutter hatte, würde mich verstehen.“
Als er nach dem Begräbnis in das Gymnasium zurückkehrte, war aus dem fröhlichen Knaben ein ernster Jüngling geworden. Der Vater hatte ihn zum Juristen bestimmt. Die Mutter hatte das gleiche gewünscht, und bis zu seinem fünfzehnten Jahre hatte auch der Knabe seinen anderen Gedanken über seine Zukunft gehabt. Allein die letzten Jahre in Grimma veranlaßten eine Änderung dieses Planes. Die große Neigung seines Wesens, Kinder zu lieben und zu lehren, trat schon im Verkehr mit den jüngeren Mitschülern zu Tage; außerdem lernte er mit einem fleißigen Altersgenossen, der später Theologie studieren wollte, hebräisch und interessierte sich ungemein für diese Sprache. Dazu entzückten ihn die Predigten seines Geistlichen, des Archidiakonus Schindler, durch die Herzlichkeit des Tones, durch den Geist der Liebe, der sie beherrschte und durch den Einfluß ihrer Ideen auf seinen Geist.
So entschloß er sich, Prediger zu werden. Als er dieses nach Hause schrieb, lebte die Mutter noch, und beide Eltern waren wenig erfreut über diese Veränderung seines Zukunftsbildes. Aber der Vater beruhigte sich bald und damit auch die Mutter.
„Der Junge mag werden, zu was er Luft hat,“ sagte er. „Er muß gern tun, was er tut.“
Damit war die Frage endgültig erledigt. Im Jahre 1779 verließ Gustav Dinter die Anstalt in Grimma, um die Universität zu beziehen.