II. Studienjahre
Dinter nennt seine Studentenjahre die genußreichste Zeit seines Lebens. Er verlebte sie in Leipzig, frei von Sorgen, da der gütige Vater dem verständigen Sohne stets Geld schickte, sobald dieser es verlangte. In den ersten zwei Jahren überbürdete er sich fast mit Kollegbesuchen; er war sehr fleißig, denn er fand, daß er vieles in seinen Kenntnissen nachzuholen und zu ergänzen habe; alles dies aber tat er mit großer Freude.
Inmitten eines Kreises gleichgesinnter Freunde fühlte er sich zu allem Guten und Edlen angeregt. Aber auch mancher lustige Streich wurde gemacht und manches witzige Wort gesprochen, das noch im Alter in seiner Erinnerung lebte. Seine Sehnsucht, öffentlich zu predigen, wurde bereits im ersten Jahre seines Studentenlebens befriedigt; er trat für den Vater eines Freundes in Schwarzenburg ein.
Da er bereits auf dem Gymnasium daran gewöhnt war, öffentliche Reden zu halten, so kam keine Furcht in ihm auf. Seine Predigt gefiel allgemein, und er selbst war sehr befriedigt über diesen ersten Versuch in der Kirche. Die dritte Predigt, die er in Vertretung übernommen hatte, hielt er in Borna, seiner Vaterstadt, wehmütig der geliebten Mutter gedenkend, die den Sohn nicht mehr hören konnte.
Im Ganzen hat er als Student sechzehn Mal und in den fünf Jahren seines Kandidatenlebens vierundsiebzig Mal gepredigt, so daß später seine Probepredigt in Kitscher die einundneunzigste war die er hielt.
Zuerst hatte Dinter daran gedacht, sich für eine Professur vorzubereiten. Da trat etwas ein, das für sein ganzes Leben von einschneidender Bedeutung wurde. Er lernte eine Waise kennen, Friederike Peck, die Tochter eines verstorbenen Pfarrers. Die Unbefangenheit und Unschuld ihres Wesens fesselten sein Herz vom ersten Tage ihrer Bekanntschaft, und er war sich bald darüber klar, daß sie die ihm bestimmte Lebensgefährtin wäre. Ohne eine eigentliche Liebeserklärung und Verlobung wußten beide was sie einander waren; sie wechselten Briefe und er besuchte sie in ihrer ärmlichen Umgebung und lernte von ihr das Spitzenklöppeln, um mit ihr zusammen zu sein. Zu einem Freund sagte er: „Versprechen werde ich ihr meine Hand nicht. Aber sie kann auf mich rechnen.“ Und auch sie gab demselben Freund ihr Wort, dem Geliebten unverbrüchlich treu zu bleiben.
Der Wunsch, Friederike bald ihren kümmerlichen Verhältnissen zu entreißen und sie in eine andere, für sie passendere Umgebung zu bringen, veranlaßte Dinter, die Professorenlaufbahn aufzugeben und seine wünsche auf eine Pfarrstelle zu richten. Sie sollte ihm eine baldige Heirat ermöglichen. Aber bevor er dieses Ziel erreicht hatte, starb Friederike schnell und unerwartet. Eine Viertelstunde vor ihrem Tode war sie noch ganz wohl. Dann bat sie plötzlich die Mutter um etwas Tee, und als diese ihn ihr hereinbrachte, fand sie die Tochter tot auf dem Bette. Dieser Todesfall erschütterte den Jüngling tief. In der Heftigkeit seines Schmerzes beschloß er, niemals eine Andere zu heiraten.
Er verzichtete damit auf ein volles Lebensglück und hat es im Alter schmerzlich eingestehen, welche Torheit dieser Entschluß war. Aber damals erfüllte nur der Gedanke, dass er der Geliebten die Treue halten wollte, und seine Liebe war zu tief, sein Schmerz zu leidenschaftlich für lange Jahre, als dass es ihm schwer geworden wäre, sein sich selbst gegebenes Versprechen zu halten.
Auch das Theater vermied er nach Friederikens Tod. Und doch hatte ihn von jeher eine starke Liebe dafür beseelt, ihn, der in seinen Kinderjahren und auch in der Schulzeit nie etwas auch nur einigermaßen Erträgliches von Schauspiel gesehen hatte. Alle Begeisterung war jetzt dahin; die Luftspiele waren ihm lästig, die Trauerspiele regten ihn auf und ließen ihn sein Leid mit neuer Heftigkeit empfinden.
Er hat in Dresden noch zweimal, später in Königsberg nie mehr ein Schauspiel gesehen, trotzdem er der Ansicht war, daß ein häufiger Besuch des Theaters zu guten Stücken auch für Theologen sehr nützlich sei. Mit der Neigung für das Theater war im Anfang seiner Studentenzeit auch der Wunsch in ihm erwacht, in der Musik etwas zu leisten, und er bat einen Freund, ihn im Klavierspiel zu unterweisen. Obwohl sie sich beide große Mühe gaben, wurde doch kein rechter Erfolg erzielt; auch fehlte die Zeit zum Üben, und von dem Jahre 1797 an, das Dinter außerordentlich viel Arbeit brachte, blieb die Sache zu seinem großen Bedauern ganz liegen.
Nachdem Dinter im letzten halben Jahre seiner Studentenzeit in Leipzig Magister der freien Künste und Doktor der Philosophie geworden war, machte er am Schluß seiner vorschriftsmäßigen Vorbereitungszeit das Examen als Candidatus Ministerii in Dresden. In der Familie des Kammerherrn von Pöllnitz einem Bekannten seines Vaters, nahm Dinter zunächst eine Hauslehrerstelle an. Diese befriedigte ihn wenig, trotz der vortrefflichen Menschen, mit denen er zusammenlebte. Er hatte sich für seinen Schüler ein zu hohes Ziel gesteckt, das dieser nach seinen Anlagen nicht erreichen konnte. Es zeigte sich bei den Wiederholungen, daß der Knabe das Erlernte vergessen hatte, und erst später sah Dinter ein, daß er viel zu schnell vorwärts gegangen war.
Da Dinter ein sehr leidenschaftliches Temperament hatte und leicht sehr heftig wurde, so kostete es ihn große Mühe, sich in den Unterrichtsstunden zu beherrschen. Er gewöhnte sich daran, sobald er sich ärgerte, in den Ballen des rechten Daumes hineinzubeißen, und dies geschah so oft und so stark, daß dadurch eine harte Haut entstand, die er erst in späterer Zeit verlor, als er schon als Pfarrer angestellt war. Aber auch mit diesem Mittel gelang es ihm nicht immer, ruhig zu bleiben, und er Knabe hatte viel unter der Heftigkeit seines Lehrers zu leiden. Trotzdem liebte er ihn herzlich, und auch die Eltern verziehen Dinter diese Heftigkeit, da sie sahen, wie gut er es mit ihrem Kinde meinte.
Außerhalb der Stunden waren Lehrer und Schüler die besten Freunde; aber erst, als der Schüler älter wurde und Dinters Herz durch den Tod seiner Friederike so hart getroffen war, änderte sich ihr Verhältnis zu einander insofern, daß Dinter seiner Heftigkeit nun eher Herr werden konnte. Wohl in Erinnerung der schweren Stunden, in denen sein Zorn mächtiger war als seine Liebe und in der Erkenntnis, daß doch der Erziehung ganzes Wirken einbegriffen sei nur in der Liebe, als Führerin, schrieb er später das Gedicht „Lehrerzorn“. Es zeigte seine Auffassung von der Notwendigkeit der Liebe als der wichtigsten Eigenschaft des Erziehers und soll daher hier seine Stelle finden.
Lehrerzorn
Da stürmen sie, wie brausende Orkane,
Die Leidenschaft durch einander hin.
Hinabgestürzt, hinabgeschleudert bebt sie,
Die Seele, kennt nicht Gott, nicht Pflicht, nicht sich.
Nur ihren Punkt, auf den sie hingeheftet,
Mit Adlersgierde hingeheftet, starrt.
Dir glüht das Antlitz, bebt die Stirne, Tropfen,
Erpreßt von Wut, beträufeln Stirn und Haar.
Fast fluchst du, daß die Welt dem Kern nicht gleiche,
Den knirschend deines Fußes Tritt zermalmt.
Und das bist du, Geliebter Gottes?
Du Sohn der Pflicht, du, sonst ein Menschenfreund!
Kaum kenn` ich dich, du, dem in ruh´ger Stunde
Das fromme Herz beim Käfermord schon schlug.
Du kannst ein Kind, ein Kind tyrannisieren,
Für das doch Freundesliebe, Vaterliebe
In deinem Herzen wallt und wallen soll?
Was ist´s denn nun, das dich so sehr ereifert?
Das, Funk im Pulverturm, das Herz dir sprengt?
Ist´s Korsentrotz, den du zu treten eiferst?
Das nicht! Ist´s Rattengift? Das nicht! Das nicht –
Der Fehler eines Knaben, der zu neu für Welt
Und sich, Gedanken seiner Seele
Noch freilich nicht mit Männerwage wägt.
Siehst du ihn leben, weinen, wanken, sinken,
Den du sonst ungeheuchelt Liebling nennst?
Der heiß dich liebend, ganz sich dir ergebend
An den Busen ruht und ruhen sollt? –
Sein Gott warst du und willst sein Teufel werden,
Der seiner Kindheit wild zerzaust?
Wenn´s frommte, wohl! Doch so? Geh, schilt die
Um ihren Gang ereifre möglichst dich! [Schnecke
Wirst du des Adlers Fittich ihr verleihn?
Sie könnte, meinest du, doch emf´ger klimmen,
Und seltner ruhn und seltner fallen? Höre mich;
Du Weiser oder Stolzer, wer bist du?
Gabst du die Federkraft des Hirns, dich so zu brüsten,
Gabst du des Geistes hellern Blick dir selbst?
Tyrann, der du so schnell die Strauchler richtest
Hast du denn ohne Straucheln geh´n gelernt?
Erbarme dich dein selbst? Denn fühlst du nicht,
Daß jede Stunde diesen tollen Eifers
Dir eine Woche deines Hierseins raubt?
Daß diese Glut die zartgewebten Fäden
Des morschen Lebens furchtbar dir versengt.
Ist doch dein Pfad kaum Räumlein einer Spanne;
Und diesen kleinen Raums welch einen Teil
Verkürzest du! Sollst du dein Mörder werden?
„Das nicht! Doch kann man schweigen? Nein!“
Sei Arzt,
Sei strenger Arzt; doch schone deines Kranken,
Daß dein Pfleg´er ferner sich vertraut.
Du weinst, du willst? Die Scham entglüht der Wange?
„ Ich kann nicht! Ach, ich sollte! Doch umsonst!
Wer dämpft die Flammenglut in seinem Busen?
Wer stillt das Toben wilder Leidenschaft?“
Wer? – Gott und du!
Entschluß, Gebt, Betrachtung!
Geh, sprich mit dir, mit deiner Pflicht, mit Gott!
Geh, sammle dich; schwör´s in der MenschheitsHainen,
Schwör`s bei der Gottheit heiligem Altar:
Mein Herz sei Sanftmut, Herr, mein Wirken, Liebe,
Mein Strafen selbst seinneuer Segen Duell.
Dann auf! und ring als Schrift, als Held, als
Weiser
Du kannst, sobald du willst und ernstlich willst.
Und kannst du`s nicht, dann Schwacher eile, wähle!
Sei, was du willst, nur sei nicht Pädagog!
Dinters Interesse an den Menschen um ihn her war zu jeder Zeit ein großes; er beobachtete aufmerksam die Pfarrer, die Schullehrer, das Volk, die Jugend, die Kinder und fand überall Lehrreiches und Scherzhaftes. Er hielt jederzeit den wissenschaftlichen Kenntnissen gegenüber viel von dem, was das lebendige Leben den Einzelnen lehrt; so sah er nicht nur die Schwachen und die Vortrefflichkeiten anderer, sondern ließ sich auch durch die ersteren waren und nahm die letzteren zum nachahmenswerten Beispiel.
Vor allem liebte er das Volk und fühlte sich in seinem Umgangé glücklich. Er konnte schon damals nicht leicht an jemand vorübergehn, ohne mit ihm ein Gespräch anzufangen und freute sich, wenn auf seine oft scherzhaften Fragen von Groß und Klein ihm in derselben Art geantwortet wurde. So lernte er schon in seiner Hauslehrerzeit das Volk von Grund auf kennen und verstehen. Und wie er ihm mit warmem Herzen Entgegenkam, so wurde er auch wiedergeliebt, oftmals voll Vertrauen um Rat gefragt, und seine Predigten fanden stets viele Zuhörer.
Im September 1787 legte er seine Hauslehrerstelle nieder, denn sein lebhaftester Herzens-wunsch erfüllte sich. Er wurde zum Pfarrsubstituten in Kitzscher ernannt. Die Stelle war gut, und der alte Pfarrer sorgte in wirtschaftlicher Beziehung für ihn und nahm ihn an seinen Tisch. Da war Dinter sehr lieb; er hätte ratlos den Anforderungen eines Haushalts gegenübergestanden, nachdem die Frau, um deretwillen er diese Laufbahn erwählt hatte, ihm durch den Tod genommen war und er keine andere an ihre Stelle als Hausfrau setzen wollte.
Dinter ist zweimal Pfarrer gewesen, zehn Jahre in Kitzscher von 1787 bis 1797 und später noch von 1807 bis 1816 in Görnitz. Von hier aus wurde er dann nach Königsberg berufen. Er hat sich befriedigt und glücklich in seiner Stellung als Pfarrer gefühlt, als Freund und väterlicher Berater seiner Gemeinde und hat beide Mal sein Amt nur deshalb niedergelegt, weil sich seinem Wirken ein größerer Kreis eröffnete und er es für seine Pflicht hielt, dieser von ihm geforderten neuen, schweren Aufgabe nachzukommen.